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2. Besucher

 

Lucy

Die Nacht brach an, und kalter Nieselregen setzte ein, als die Porter Fähre am Neuen Kai, einer unlängst aus Stein errichteten Anlegestelle direkt neben Sally Mullins Tee- und Bierstube, anlegte. Die müden Fahrgäste erhoben sich steif von ihren Plätzen und wankten mit ihren Kindern, Hühnern und Gepäckstücken über die Gangway ans Ufer. Viele folgten auf wackligen Beinen dem ausgetretenen Weg zum Tee- und Bierhaus, um sich dort am Ofen aufzuwärmen und mit Sallys Spezialitäten zu stärken: heißem Bierpunsch und ofenfrischem, würzigem Gerstenkuchen. Andere, die es gleich nach Hause zog, machten sich auf den langen, beschwerlichen Weg den Hügel hinauf, an der Müllkippe Schönblick vorbei zum Südtor, das stets bis Mitternacht geöffnet war.

Lucy Gringe war wenig begeistert von der Aussicht, nun den Hügel zum Palast hinaufzustapfen, zumal sie wusste, dass die Fähre dort wahrscheinlich vorbeifahren würde. Sie schaute zu der Frau, die neben ihr saß. Auf der ersten Hälfte der Fahrt hatte sie versucht, ihrem seltsam verstörenden Blick auszuweichen, aber nachdem die Fremde sie schüchtern nach dem Weg zum Palast gefragt hatte – der auch ihr erstes Ziel heute Abend war –, hatten sie sich die übrige Fahrt angeregt unterhalten. Jetzt stand die Frau müde auf und schloss sich den anderen Passagieren an.

»Warten Sie einen Moment«, sagte Lucy zu ihr. »Mir ist da eine Idee gekommen ... Verleihung?«, rief sie dem Fährjungen zu.

Der Fährjunge drehte sich um. »Ja, Schätzchen?«

Mit einiger Mühe überhörte Lucy das »Schätzchen«. »Wo geht ihr heute Nacht vor Anker?«, fragte sie.

»Bei dem auffrischenden Nordwind wohl bei Jannit Maartens Werft«, antwortete er. »Wieso?«

»Nun ja, ich habe mich gefragt ...« Lucy schenkte dem Jungen ihr schönstes Lächeln. »Ich habe mich gefragt, ob ihr uns vielleicht mitnehmen und unterwegs absetzen könntet. Es ist so kalt heute Nacht. Und finster obendrein.« Lucy zitterte eindrucksvoll und sah den Fährjungen aus großen braunen Augen traurig an. Es war sofort um ihn geschehen.

»Aber klar, Schätzchen. Ich sage dem Skipper Bescheid. Wo wollt ihr denn aussteigen?«

»Am Landungssteg des Palastes, wenn’s recht ist.«

Der Junge blickte verdutzt. »Am Palast? Bist du sicher, Schätzchen?«

Lucy verkniff sich die Bemerkung »Nenn mich nicht ständig Schätzchen, du unverschämter Kniich« und sagte stattdessen: »Ja, aber bitte nur, wenn es nicht zu große Mühe macht.«

»Für dich ist mir keine Mühe zu groß, Schätzchen«, erwiderte der unverschämte Kniich, »obwohl ich dich nicht am Palast absetzen würde, wenn es nach mir ginge.«

»Ach ja?« Lucy wusste nicht recht, wie sie das verstehen sollte.

»Ja weißt du denn nicht, dass es an dem Landungssteg spukt?«

Lucy zuckte mit den Schultern. »Das stört mich nicht«, sagte sie. »Ich kann Geister sowieso nicht sehen.«

Die Fähre legte vom Neuen Kai ab. Sie wendete an der breiten Stelle des Flusses und schaukelte beängstigend, als sie quer zur Strömung lag und kurze, vom Wind aufgewühlte Wellen gegen den Rumpf schlugen. Doch sobald der Bug stromabwärts blickte, lag sie wieder ruhig im Wasser, und etwa zehn Minuten später kam sie am Landesteg des Palastes sachte zum Stehen.

»Da wären wir, Schätzchen«, sagte der Fährjunge und warf eine Leine um einen Vertäupfahl. »Wünsche einen angenehmen Aufenthalt.« Er winkte Lucy zu.

»Danke«, erwiderte Lucy trocken, stand auf und streckte ihrer Nachbarin die Hand hin. »Wir sind da.«

Die Frau lächelte sie dankbar an, erhob sich ungelenk und folgte ihr an Land.

Die Porter Fähre legte wieder ab. »Auf Wiedersehen!«, rief der Fährjunge.

»Nicht wenn ich dich zuerst sehe«, grummelte Lucy und wandte sich ihrer Begleiterin zu, die staunend auf den Palast blickte. Tatsächlich bot der Palast einen herrlichen Anblick – ein lang gestreckter, niedriger Bau, aus alten gelben Steinen errichtet, mit hohen, eleganten Fenstern, davor gepflegte Rasenflächen, die bis an den Fluss heranreichten. In jedem Fenster flackerte eine Willkommenskerze, sodass das ganze Gebäude in der anbrechenden Dunkelheit in einem magischen Glanz erstrahlte.

»Hier wohnt sie?«, murmelte die Frau in ihrem melodischen Akzent.

Lucy nickte kurz. Sie wollte sich nicht unnötig lange aufhalten und schritt zielstrebig den breiten Weg zum Palast hinauf. Doch die Frau kam ihr nicht nach. Sie blieb auf dem Landungssteg stehen und redete, wie es schien, in die leere Luft. Lucy seufzte. Warum geriet sie immer an verschrobene Leute? Sie wollte die Frau nicht stören bei ihrem einseitigen Gespräch – bei dem es offenbar um etwas Ernstes ging, denn sie nickte jetzt traurig – und ging weiter, den Lichtern des Palastes entgegen.

Lucy fühlte sich nicht gut. Sie war müde und fror, und vor allem fragte sie sich beklommen, wie man sie im Palast wohl empfangen würde. Sie fasste in die Tasche, in der Simons Briefe steckten, zog sie heraus und las mit zusammengekniffenen Augen die Namen, die Simon in seiner großen, schwungvollen Handschrift auf die Umschläge geschrieben hatte: Sarah Heap. Jenna Heap. Septimus Heap. Den Brief an Septimus schob sie wieder in die Tasche, die anderen beiden behielt sie in der Hand. Sie seufzte. Am liebsten würde sie jetzt sofort zu Simon zurückkehren, um sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung war. Aber Simon hatte sie gebeten, seiner Mutter und seiner Schwester die Briefe zu überbringen, und sie würde sie überbringen, ganz gleich, was Sarah Heap von ihr dachte.

Ihre Begleiterin hatte sie nun eingeholt.

»Verzeihen Sie, Lucy«, sagte sie, »aber ein Geist hat mir gerade eine Geschichte erzählt, eine sehr, sehr traurige Geschichte. Die Liebe ihres Lebens – und ihres Todes – ist durch einen Zauber verbannt worden. Versehentlich. Wie kann einem Zauberer nur ein solcher Fehler unterlaufen? Ach, wie furchtbar.« Die Frau schüttelte den Kopf. »Wirklich furchtbar.«

»Das kann nur Alice Nettles sein«, erwiderte Lucy. »Ich weiß von Simon, dass Alther etwas Schreckliches zugestoßen sein soll.«

»Ja. Alice und Alther. Wie traurig ...«

Lucy hatte für Geister nicht viel übrig. Ihrer Ansicht nach waren Geister tot – und es kam doch darauf an, dass man, solange man noch lebte, mit dem Menschen zusammen war, mit dem man zusammen sein wollte. Aus eben diesem Grund war sie in die Burg zurückgekommen und bibberte jetzt in dem bitterkalten Nordwind, der vom Fluss heraufwehte. Sie war müde und sehnte sich nach einem warmen Bett, in das sie sich kuscheln konnte.

»Gehen wir weiter?«, fragte sie. »Ich weiß ja nicht, wie es Ihnen geht, aber ich friere.«

Die Frau nickte. Groß und schlank, zum Schutz vor dem Wind fest in ihren dicken Wollmantel gewickelt, setzte sie vorsichtig einen Fuß vor den anderen und suchte mit ihren wachsamen Augen das Gelände vor ihnen ab, denn im Unterschied zu Lucy sah sie keinen breiten, leeren Weg. Für sie wimmelte der Weg und die ihn säumenden Rasenflächen von Geistern: dahineilenden Palastdienern, jungen Prinzessinnen, die Fangen spielten, kleinen Pagen, alten Königinnen, die zwischen verschwundenen Gebüschen umherwandelten, und bejahrten Palastgärtnern, die geisterhafte Schubkarren schoben. Sie schritt deshalb so vorsichtig aus, weil Geister einer Geisterseherin dummerweise nie aus dem Weg gingen. Sie hielten sie für eine der ihren – bis sie von ihr passiert wurden. Und dann waren sie natürlich furchtbar eingeschnappt.

Lucy, die keinen einzigen Geist sah, schritt kräftig aus, und die Geister machten eilends Platz, denn nicht wenige hatten mit ihr und ihren derben Stiefeln bereits unliebsame Bekanntschaft geschlossen. Bald erreichte sie den oberen Weg, der um den Palast herumführte, und drehte sich nach ihrer Begleiterin um, die erneut zurückgeblieben war. Das Bild, das sich ihr darbot, war sehr sonderbar: Die Frau trippelte auf Zehenspitzen den Weg herauf und hopste mal nach links, mal nach rechts, als tanze sie einen von diesen altmodischen Burgtänzen – nur eben ganz allein. Lucy schüttelte den Kopf. Das ließ nichts Gutes ahnen.

Schließlich schloss die Frau, nervös und außer Atem, zu ihr auf, und Lucy ging schweigend weiter. Sie hatte beschlossen, den Rundweg zu nehmen, der um den Palast herum zum Haupteingang führte, anstatt an eine der vielen Küchen- und Seitentüren zu klopfen, denn dort bestand die Gefahr, dass niemand sie hörte.

Der Palast war ein sehr lang gestrecktes Gebäude, und so dauerte es gut zehn Minuten, bis Lucy und die Frau endlich auf die flache Holzbrücke traten, die über den Ziergraben zum Tor führte. Als sie ankamen, öffnete ein kleiner Junge die Nachtpforte – eine kleine Tür, die in das große Flügeltor eingelassen war.

»Willkommen im Palast«, flötete Barney Pot, der in seinem grauen Palastrock und seinen roten Beinkleidern prächtig aussah. »Wen wünschen Sie zu sprechen?«

Lucy kam gar nicht erst dazu, ihm zu antworten.

»Barney!«, trällerte eine Stimme von drinnen. »Hier steckst du! Es ist Zeit fürs Bett. Du hast morgen Schule.«

Lucys Begleiterin erbleichte.

Barney drehte sich um. »Aber ich möchte den Türdienst machen«, protestierte er. »Bitte. Nur noch fünf Minuten.«

»Nein, Barney. Ab ins Bett!«

»Snorri?« Die Frage kam von der Frau, die plötzlich leicht wankte.

Ein Mädchen mit langen hellblonden Zöpfen steckte den Kopf durch die Nachtpforte und spähte mit blassblauen Augen in die Dunkelheit heraus. Sie stutzte, blickte scharf an Lucy vorbei und schnappte nach Luft. »Mama!«

»Snorri... oh, Snorri!«, rief Alfrun Snorrelssen.

Snorri Snorrelssen flog in die Arme ihrer Mutter. Lucy lächelte wehmütig. Vielleicht, dachte sie, war das ein gutes Omen. Wenn sie nachher an die Tür des Torhauses am Nordtor klopfte, würde sich ihre Mutter vielleicht ebenso freuen, sie zu sehen. Vielleicht.

Septimus Heap 06 - Darke
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